Digitalisierung in Praxen braucht Mehrwert?

Die Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen hat eine Pressemeldung unter selbiger Überschrift veröffentlicht, die hier beginnend mit dem Fragezeichen, das wir angefügt haben, kommentiert werden soll.

Diese Kommentierung zur Digitalisierung von Arztpraxen greift eine Pressemeldung der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen (KVN) auf. Das Sinnbild zum Beitrag empfinden wir als treffend. Ein Fallschirmspringer, dessen Schirm bisher nicht ganz geöffnet ist und der mutmaßlich auf die Unterstützung durch eine normative Hilfestellung hofft.

Unausgereifte Telematik-Anwendungen gefährden die ambulante Versorgung.

Verständlich, dass man hier etwas überzeichnet. Tatsächlich sollen alarmierte Leser für die Position im Gewand einer Pressemeldung gefunden werden. Wir gehen der Sache mal nach und fragen als Erstes. Wie kann etwas die ambulante Versorgung jetzt schon gefährden, wo die Einführung oder Nutzung der Telematikinfrastruktur aufgrund der nachfolgenden Argumentation gar nicht gegeben ist. Wird hier einmal mehr das Kind absichtlich in den Brunnen geworfen?

„Die Digitalisierung der ambulanten Versorgung muss die Arbeitsabläufe in den Praxen sinnvoll unterstützen und entlasten, damit wieder mehr Zeit für die Diagnostik und die Behandlung der niedersächsischen Patientinnen und Patienten bleibt.“ Das fordert die Vorständin der Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen (KVN), Nicole Löhr, heute in Hannover.

Diese Forderung ist nachvollziehbar und verständlich. Die Digitalisierung leistet das jedoch solange nicht, bis sich die Nutzer (in diesem Fall die Leitungen und Teams in Arztpraxen) kompetent einbringen. Die Digitalisierung beschreibt lediglich den Prozess der Integration von Lösungen und nicht den gezielten Aufbau digitaler Kompetenzen in den Praxen, die letztlich zur neuen Haltung einer Digitalität führen kann. Und auch nur dann, wenn Digitalisierungsbemühungen nicht losgelöst vom bisherigen Praxisalltag diskutiert werden. Das Zitat verweist einmal mehr darauf, dass man davon ausgeht, dass mit der sogenannten Digitalisierung etwas hinzukommt, das modular gedacht werden könnte.

„Bisher haben digitale Anwendungen wie der Stammdatenabgleich oder die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung hauptsächlich bei Krankenkassen und Arbeitgebern für effizientere Verwaltungsabläufe gesorgt und damit zu Einsparungen in Millionenhöhe geführt. Der Aufwand dieser Anwendungen hingegen liegt vor allem in den Praxen“, sagt Löhr.

Das liest sich zu zunächst recht logisch. Digitalisierung benötigt Mehrwert (mehr Wert) und einen nachvollziehbaren Nutzen. Viel logischer wäre es aber, sich zunächst klarzumachen, dass es Digitalisierung nicht zum Nulltarif gibt; in dem Sinne, dass etwas Vorhandenes um das Digitale in der Art erweitert wird, dass sich nichts ändern müsste. Digitalisierung setzt Bereitschaft zur echten Transformation auf vielen Ebenen voraus. Das ständige Rufen nach Lösungen Out of the box leistet hier keinen Beitrag.

Freie Ärztinnen und Ärzte bleiben nur dann frei, wenn sie nicht ständig nach Regulierung durch die Politik rufen, sondern ihren Teil der Selbstwirksamkeit heben, sodass sich Mehrwert und Nutzen einstellen. Verwaltungsabläufe klingt zudem anachronistisch. Denn zunächst ist jede Praxis verantwortlich für gute Prozesse. Gelungene Digitalisierung ist nicht nur ein Knopf mehr im PVS.

Löhr weiter: „Neue Anwendungen wie das elektronische Rezept, die elektronische Patientenakte und der elektronische Medikationsplan gehen über die reine Verwaltung hinaus und unterstützen Diagnostik und Therapie. Die Einführung dieser Komponenten in den Praxen unterstützt die KVN.“

Hervorragend. Doch auch hier ist erkennbar, dass man in Komponenten denkt. Alle drei Anwendungen der Telematikinfrastruktur profitieren von der gemeinschaftlichen Nutzung durch alle, für diesen Teil am Gesundheitsgeschehen Beteiligten. Der Akzent, die Anwendungen reichten über die Verwaltung hinaus, ist richtig und der damit verbundene Appell ebenfalls.

„Damit die geplanten Anwendungen eRezept, ePA und eMedikationsplan nun endlich auch einen Mehrwert für Patienten und Praxen bringen, müssen jetzt die richtigen Rahmenbedingungen von der Politik geschaffen werden“, erläutert Löhr.

Unklar bleibt hier, was konkret mit Rahmenbedingungen gemeint sein kann. Jede Arztpraxen gehört zu den Rahmen eines gelingenden Gesundheitsgeschehens und wie oben erwähnt, werden sich die sich Leitungen und Teams den Herausforderungen aktiv zuwenden müssen, um ein tätiges Zusammenhandeln zu ermöglichen. Die Forderung nach Rahmenbedingungen bleibt so lange ein Allgemeinplatz, bis die Ärzteschaft anerkennt, dass sie ein mereologischer Teil des Gesundheitsgeschehens sind. Ein mereologischer Teil ist ein Teil eines Ganzen, der nur in Bezug auf das Ganze existiert und keine eigenständige Existenz hat.

„Die Telematik-Anwendungen in den Praxen müssen reibungslos funktionieren. Unausgereifte Hard- und Softwarelösungen kosten Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten und ihren Praxisteams Zeit, Geld und Nerven. Sie führen so letztlich zu Ablehnung. Der Gesetzgeber darf gerade bei noch anfälliger Technik nicht mit Sanktionen drohen. Ziel der Politik muss es sein, Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten als Verfechter und Multiplikatoren der Digitalisierung im Gesundheitswesen zu gewinnen. Die Refinanzierung der notwendigen Hard- und Software für die Praxen muss kostendeckend und unbürokratisch erfolgen, sonst verabschieden sich immer mehr ältere Ärztinnen und Ärzte vorzeitig aus dem System und jüngere wagen erst gar nicht den Schritt in die ambulante Versorgung“, so die Digitalisierungsexpertin der KVN.

Auch hier wird die eigentliche Rolle verkannt. Arztpraxen kaufen Digitalisierung nicht ein, sondern sind Teil eines Umbauprozesses, der ein vollständig neues Gesundheitsgeschehen mit neuen Gesundheitsbeziehungen formiert. So verständlich die Kompensation zugemuteter Kosten ist, so weniger nachvollziehbar bleibt, dass sich Errungenschaften der Digitalisierung außerhalb der hier geführten Diskussion nicht durchsetzen. Digitale Kompetenzen sind in deutschen Arztpraxen wenig ausgeprägt. Mittlerweile ist klar, dass Digitalisierung als Querschnittsaufgabe viele Lebens- und fast alle Unternehmensbereiche durchzieht. Die Unternehmenspraxis des heilenden Freiberuflers wird sich vollumfänglich verändern. Veränderung wird nicht eingekauft, sondern unterliegt der persönlichen und organisationalen Deliberation, also dem Abwägen im Rahmen einer ausreichenden Urteilskraft.

Deshalb noch einmal der Hinweis: »Freie Ärztinnen und Ärzte bleiben nur dann frei, wenn sie nicht ständig nach Regulierung durch die Politik rufen, sondern ihren Teil der Selbstwirksamkeit heben.«

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