Neulich trafen wir uns gemeinsam mit Claus-Dieter Gorr auf der HEALZZ Agora. Das Social Audio Live Event widmete sich der Komplexität im deutschen Gesundheitswesen. Der Erfinder des Posters »Das GKV-System« erklärte nicht nur, wie es 2012 zu der Idee kam, das Gesundheitswesen und seine komplexen Zusammenhänge zu visualisieren. Gemeinsam mit den Teilnehmenden entstand – wie gewünscht – eine muntere Diskussion, wie den unübersichtlichen Strukturen im deutschen Gesundheitswesen beizukommen wäre, welche Prioritäten gesetzt werden müssen und wie es um die Verantwortlichkeiten steht.
⚠️ Die schlechte Nachricht. Es wird nicht einfach und wir unterliegen einem Denkfehler. Die gute Nachricht. Wir stehen an einem logischen Punkt, der Veränderungen bringen wird.
Ein zentraler Aspekt dabei ist die Diagnose, dass Komplexität einem Paradox unterliegt, das so im Diskurs sich verändernder Gesundheitsmärkte kaum berücksichtigt wird. Schon die Verantwortungsbereiche einzelner Gesundheitsakteure haben einen Grad an Verschachtelung aus Notwendigkeiten erreicht, die kaum mehr überblickt werden können. Das große Ganze im Blick zu behalten und womöglich Verantwortung über den eigenen Zuständigkeitsbereich hinaus zu übernehmen, ist schon länger keine Option mehr. Zu divers überlagern sich die Probleme, unter denen das Gesundheitssystem in Deutschland ächzt.
Auf der Mikroebene der individuellen Gesundheitsbeziehung, die die Menschen zu ihren Ärztinnen und Ärzten oder ganzen Gesundheitseinrichtungen pflegen, ist das nicht immer spürbar. Hier wird sich gekümmert, Überlastung individuell kompensiert oder sich als Patient selbst gekümmert. Wird es systemisch, reichen die Lösungsansätze auf der Makroebene kaum aus, Maßnahmenpakete und Gesetzesvorlagen greifen zu kurz und niemals tief genug ins Reich der Komplexität.
Was die Teilnehmenden anekdotenreich an Phänomenen erfahren durften, über die in den gut 60 Minuten berichtet und referiert wurde, brachte eine Erkenntnis zutage. Dem Gesundheitssystem und seinen Verantwortlichen fehlt es an Kapazitäten, den Übergang von einer rein linear-kausalen Lösungskultur zu einer vollumfänglichen Anerkennung eines Grades an Komplexität zu kommen. Das setzt Tugenden voraus, die im System selbst kaum erworben werden können.
Claus-Dieter Gorr treibt das um. Mit seiner Grafik hat er bereits vor 11 Jahren bewiesen, dass es mit einfachen Patentrezepten nicht mehr getan ist. Ein Blick auf sein Poster offenbart, dass es kaum einen logischen Punkt gibt, bei dem man anfangen kann. Das zeigte auch das Werkgespräch des Digitalwerks zum Thema Estland, einen Tag später.
Passiert ist immer schon zu wenig. Mehrere Zeitpunkte für umfassende Systemreformen wurden verpasst. Doch auch die Gesundheitsakteure selbst, haben kaum Ideen, ziehen sich auf partikulare Interesseninseln zurück und warten auf Rettung. Das ist derzeit gut zu beobachten beim Ruf der Krankenhäuser nach Kompensation der höheren Energiekosten, der dadurch bedingten Inflation und dem Fachkräftemangel, den viele gern per Gesetz gelöst sehen wollen.
Längst ist die Rede von einer Verantwortungsdiffusion unbekannten Ausmaßes, was mit dem Komplexitätsgrad Hand in Hand geht. Dieser Befund lässt sich eindrucksvoll im Diskurs ablesen. Gegenseitige Vorwürfe, das große Jammern der Berufsgruppen verweist auf die Tatsache, dass wir in Deutschland Probleme haben, ein nicht staatliche System, das primär vom Regierungshandeln in Bund und Land abhängig ist. Man sieht sich Marktentwicklungen ausgesetzt, die nicht mehr selbst gestaltet werden können und muss eine erste Stufe eines Umbaus ›by desaster‹ statt ›by design‹ weg ertragen.
Verantwortung und seine Übernahme
Selbst dort, wo sich Experten darum bemühen, die Probleme anzugehen, reicht die Übernahme von Verantwortung lediglich bis zu einem Anspruch, die Dinge zu vereinfachen. Wer sich philosophisch informiert und dazu verhält, erkennt, dass hier ein paradoxer Umstand das Meinungsbild bestimmt. Wer Dinge vereinfacht, denkt in Abbildungen oder Modellen zur sich gebenden Wirklichkeit. Diese Vereinfachung mag punktuell gelingen. Ein Reduzieren der Leistungsgruppen für Krankenhäuser und deren neue Zuteilung wäre hier zu nennen. Doch wer in Modellen denkt, vergisst, dass wir damit nicht der Wirklichkeit näher kommen, sondern der Wirklichkeit ein weiteres Modell hinzufügen. Die Folge ist, es wird noch komplexer. Eine stetig wachsende Bürokratie ist ein Ergebnis dieses Phänomens. Misstrauen und darauf aufsetzende Kontrollmechanismen ebenfalls. Das ganze dreht sich dann wie ein Strudel ständig im Kreis und ab einer Größenordnung, bei der sich die Kräfte verselbstständigen, reißt es die Ersten in die Tiefe.
Umso schwieriger wird es, wenn die grundsätzliche Richtung eines Reformprozesses nicht klar definiert wird. Beginnt man regional mit neuen Versorgungsmodellen und -pfaden, oder braucht es zunächst einen politischen Masterplan? Möglicherweise ist beides wichtig und das alles sollte behutsam, möglichst nicht überfordernd, mit der Gesamtbevölkerung im Diskurs abgewogen werden.
Ein fehlender Masterplan, eine unzureichende Patientenorientierung und ein planwirtschaftlich entlang der Selbstverwaltung organisiertes Gesundheitswesen stößt an seine Grenzen. Die in diesem System wenig systematische Mischverantwortung, die sich mangels Durchblick kaum als positiv konnotierte Multiakteursverantwortung verstehen lässt, verhindert den Systemumbau.
Ein Masterplan würde unangenehme Fragen beantworten müssen. Ist der Föderalismus noch der richtige Weg? Welche Bedürfnisse medizinischer Natur haben die Menschen wirklich? Darf jüngeren Generationen und ihren gesunden Teilnehmern mehr Prävention zugemutet werden?
Man müsste sich grundsätzlicher mit dem Gesundheitssystem beschäftigen und käme so auch auf die Frage, ob das duale Versicherungssystem noch zeitgemäß ist, welchen Beitrag die PKV fernab der Meinung optimistisch klingender Verbandsnachrichten wirklich leistet. Darum soll es beim nächsten Treffen auf der HEALZZ Agora zum Aspekt der Komplexität mit Claus-Dieter Gorr gehen.
Welche Leistungen darf ein Versicherter (nicht nur in der PKV) von seiner Krankenversicherung erwarten? Welche Maßstäbe zeigen sich nach Jahren einer kreativen medizinischen Bewertungspraxis, die ganz offensichtlich nichts mehr damit zu tun hat, dass Menschen geholfen werden soll.
In diesem System hat eine Phase begonnen, wo jeder versucht, sich selbst zu helfen, ohne dabei die wahre Komplexität im System anzuerkennen.
Merken Sie sich den 4. Oktober 2023 um 12 Uhr, wenn wir wieder mit Claus-Dieter Gorr zusammentreffen. Bis dahin begegnen sie einige Teilnehmenden der HEALZZ Agora auf dem Gesundheitswirtschaftskongress in Hamburg vom 19. bis 20. September 2023. Halten Sie so lange Ausschau und folgen Sie dem HEALZZ Mag auf Linkedin. Außer der Komplexität im Gesundheitswesen widmen wir uns noch vielen anderen Themen.