Populismus trifft Gesundheitswesen: Eine kritische Analyse des aktuellen Diskurses

Der Diskurs im Gesundheitswesen leidet unter einer Kultur der Sofortness und der Übertreibung, die durch Populismus verstärkt wird. Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit wird oft durch Schockereignisse geweckt, die flüchtig sind und keine dauerhaften Veränderungen bewirken. Es fehlt an Begriffsarbeit und Lösungsorientierung, und die Kommunikation zwischen den Beteiligten ist oft anlassbezogen und dramatisierend. Um echte Veränderungen zu bewirken, benötigen wir Geschichten des Gelingens, die inspirieren und motivieren, Teil der Lösung zu sein.

Wir sind vom Wohlstand verwöhnt und blenden gelegentlich aus, dass Probleme in ihrer Art genauso komplex sind, wie die darunter liegenden Strukturen. Die Stunde des Populismus hat geschlagen.

Gleiches gilt für anzustrebende Lösungen. Anstand diese Komplexität zu bejahen und im tätigen Zusammenhandeln, um Lösungen zu ringen, verfallen wir der aufgeregten Diskussion um den Selbsterhalt von Systemen, die in ihrem Zustand aus der Zeit gefallen sind.

Dieses als Autopoiesis bezeichnete Phänomen bedient sich oft jenen Mitteln, die einst dabei halfen, das System zu schaffen. Ein Beispiel ist der ständige Ruf nach mehr Geld im Gesundheitswesen. Der Grund für soziale Sicherungssysteme ist Geld. Mehr Geld erhält, packt aber nicht an.

Von wegen Mediendemokratie

Treten Unregelmäßigkeiten auf, alarmiert das nicht mehr nur die unmittelbar am Erhalt der Strukturen beteiligten Akteure. Die Zeiten, in denen im Hintergrund nötige Strukturreformen mit Rostschutz übertüncht werden konnten, scheinen vorbei zu sein. Aufgrund der in den vergangenen zwei Jahrzehnten immens gewachsenen medialen Vernetzung, gelangen Probleme häufiger nicht mehr ganz zufällig in den öffentlichen Raum und neigen dort dazu, sich zum Schockereignis hochzuschaukeln. Das liegt an der großen Gereiztheit, die der Tübinger Philosoph Bernhard Pörksen als Disintermediation beschreibt.

Ein neunjähriges Mädchen kann im Zusammenspiel mit anderen ein Thema auf die globale Agenda setzen. Die Gatekeeper alten Typs, die Wächter am Tor zur öffentlichen Welt […] lassen sich umgehen und verlieren an Bedeutung.

Oft wird die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erst durch Narrative geweckt, die zum Schockereignis hochgejazzt werden. Früher hätte man schlicht und ergreifend kaum etwas davon mitbekommen oder wegen mangelnder Expertise auf Fachleute vertraut. Was man bis vor einigen Jahren noch begrüßen wollte und als Demokratisierungseffekt romantisierte, verursacht heute Probleme, denn diese Aufmerksamkeitsschübe sind flüchtig und motivieren nicht dauerhaft. Sie erzeugen eine Flut von Emotionen, die schnell verebbt. Die nachhaltigen Veränderungen, die wir so dringend brauchen, versanden im allgemeinen Rauschen einer oft unverhältnismäßigen Aufgeregtheit. Oft stecken wir noch im Nebel, da kommt schon der nächste Knall. Eine Krise folgt auf die nächste. Heute leben wir in der Krisenzeit.

Dabei vermeiden wir, die echten Krisen zusammen zu betrachten. Wir isolieren die Pandemie und den russischen Angriffskrieg, dabei wird uns nach längerem Sinnieren darüber klar, dass die Krisen mehr oder weniger zusammenhängen könnten. Die Pandemie als riskante Prüfung für westliche Demokratien könnte den Zeitpunkt provoziert haben, einen Krieg als politischen Zweck einzusetzen.

Zum Verdacht eines verdeckten Populismus im Gesundheitssystem

Die Erregungsspiralen in der Krisenzeit scheinen alle etwas miteinander zu tun zu haben. Ein Angriffskrieg, eine Energiekrise später schmieden wir den Heizungshammer, weil unbequeme Wahrheiten auf überfällige Entscheidungen zum Menschenschutz treffen. Halbherzigen Gesundheitsreformen, hegemonial vereitelte Digitalisierungsbemühungen, Fachkräftemangel im Gesundheitswesen und neue Bedürfnisstrukturen im Gesundheitsmarkt übertragen sich auf die Finanzierbarkeit liebgewonnener Institutionen, die jetzt in einem großen Krankenhaussterben münden sollen. Alles klingt dramatisch und doch dreht es sich primär um die Ressource Geld und den Umstand, dass politische Entscheidungen an ein System aus Selbstverwaltungen abgegeben werden, was eine oben angesprochene Autopoiesis begünstigt.

Wir neigen sodann zur rhetorischen Vereinfachung und widmen uns dem lautstarken Beklagen der Störung, ohne uns bereits der Lösung zuzuwenden. Überhaupt fehlt es uns an Begriffsarbeit. Fehlende Begrifflichkeit provoziert hermeneutische Ungerechtigkeiten. Dann fehlt eine Lösungsorientierung je, weil das Problem nicht einmal erkannt werden will. Der Diskurs in sich verändernden Gesundheitsmärkten verzichtet schon lange auf eine Bewusstseinsbildung im Einklang mit eigenen und tatsächlichen Verwerfungen. Wahrscheinlich ist eine Beteiligung am Diskurs für eine außerhalb der Systemkämpfe stehende Bevölkerung nicht einmal leistbar. In der Krisenzeit jedoch wird sie bemüht und gleichzeitig überfordert.

Im Februar stellte sich VKD Präsident Josef Düllings mit der Gitarre vor sein Vincenz-Krankenhaus, das er mittlerweile nach 20-jähriger Geschäftsführertätigkeit verlassen hat, um kurz nach dem Bekanntwerden seines Abschieds zur Mobilisierung der Bevölkerung gegen die anstehende Krankenhausreform aufzurufen. Knapp zwei Monate später meldet das Krankenhaus Insolvenz an.

Die zentrale Herausforderung, wenn es darum geht, die Unterstützung der Öffentlichkeit für den Umbau regionaler Versorgungsstrukturen zu gewinnen, liegt in der Auflösung des Doppeldenk, der auf Versorgungsstrukturen genau so zutrifft, wie auf die Gestaltung einer Energiewende. Doppeldenk ist die Fähigkeit, jeweils widersprüchliche Aussagen gleichzeitig für wahr zu halten, wie es in George Orwells Roman »1984« beschrieben wird.

Wenn Sie die Menschen vor Ort mit der Frage mobilisieren, ob Ihnen Ihr Krankenhaus wichtig ist, wird jeder seinen Anspruch an eine solche Gesundheitseinrichtung erneuern und beteuern. Das Krankenhaus am Ort wird nicht infrage gestellt. Fragt man dieselben Menschen danach, ob sie bereit sind, mehr Geld für den Erhalt von Krankenhäusern auszugeben, trifft man oft auf Missmut und Ablehnung. Genauso beobachtet man das bei Windrädern und dem Ausbau von erneuerbaren Energien. Schnell findet sich eine Mehrheit, die den Einsatz erneuerbarer Energien unterstützt. Doch wenn diese Menschen gefragt werden, ob sie bereit wären, auf ihre Öl- oder Gasheizungen zu verzichten und ein Windrad vor ihrer Haustür zu dulden, zeigt sich plötzlich Protest.

Die schwierige Aufgabe liegt nicht in der mangelnden Zustimmung zum Umbau konditionierter Versorgungskonzepte

Erneuerbare Energien heißen so, weil sie sich nicht verbrauchen, was für sie spräche, wenn man nur wollte. Die Probleme entstehen, wo Kontinuität einer Kommunikation der professionell am Gesundheitsgeschehen Beteiligten fehlt. Kommuniziert wird gegenüber der Bevölkerung häufig anlassbezogen, plötzlich und dramatisierend. Vergleichbar mit dem Preishammer am Wochenende im Supermarkt wird versucht, mangelnden Gestaltungswillen im Gesundheitssektor im Gewand einer Dystopie zu verkaufen.

Wir werden alle sterben, wenn das Krankenhaus erst einmal geschlossen ist. Vielleicht. Irgendwann. Ganz bestimmt.

Hier spielt ein auch im Gesundheitsdiskurs steckende Populismus eine unglückliche Rolle. Dem Verdacht müssen sich Gesundheitsakteure, Politiker:innen und Meinungsführerschaften stellen. Heutige Deliberationen im politischen Raum sind geprägt von einer Kultur der Sofortness, die sich auf kurzlebige Schocks und Skandale konzentriert. Das Krankenhaus wird geschlossen oder droht aufgrund der hohen Inflationskosten insolvent zu gehen? Weltuntergang. Abgesehen von zu rechtfertigenden Kompensationen mithilfe von mehr Geld, die kurzfristig helfen mögen, konzentriert man sich nach erfolgreicher Rettung nicht auf langfristig gültige Antworten. Vielmehr wird versucht, mit möglichst alarmierenden Verlautbarungen Missstände am Leben zu halten, um in tradierten Reflexen zu verharren. Das kennt oft nicht einmal einen Schuldigen. Letztlich sprechen wir von einer Dialektik, die – wie schon oft in der Geschichte dokumentiert – in einen Funktionalismus instrumenteller Vernunft rutscht und das Potenzial hat, echten Fortschritt langfristig zu verhindern oder ihn sogar zurückzudrehen.

Die dunkle Ironie des Populismus liegt in seiner besonderen Affinität für die Unlösbarkeit von Problemen

Populismus neigt zur Übertreibung und überhöht oder überzeichnet die Missstände, anstatt eine zumindest mittelfristige Bewältigung gleich mitzudenken. Wobei hier der Teufel im Detail zu sitzen scheint. Entsteht Dringlichkeit, leben wir oft in unterschiedlichen Zeitordnungen, wie es Peter Sloterdijk im Juni 2023 bei einer Veranstaltung in Köln im Gespräch mit Robert Habeck anmerkte. Seit rund 200 Jahren und zuletzt durch die Errungenschaften der Digitalisierung sind wir verwöhnt von einer technologischen Schnelllebigkeit, die uns beginnt, zu überfordern. Wir schätzen Technologie und wissen sie doch nicht konsequent genug einzusetzen.

Was den politischen Diskurs betrifft, trägt die mediale Vernetzung einen großen Anteil am Geschehen. Sie beschleunigt weniger, wie wir zu Lösungen kommen, sondern die Wechselfälligkeiten der Deliberationen, die den Diskurs bestimmen.

Nehmen wir als Beispiel das Siezen in der deutschen Kultur. Sie entstand im 16. Jahrhundert durch eine neue, höfische Gesellschaftsordnung. Bis heute sind wir dabei, die Kulturpraktik des Siezens loszuwerden, während andere Sprachräume nie auf die Idee gekommen sind, ein solches Ding einzuführen. Dabei beschweren sich heute diejenigen über den Versuch einer Überwindung des Siezens, die aufgrund eines wegbrechenden Wohlstands nach einem letzten Funken Anstand rufen, dabei aber jeden Edelmut (»Adel«) vermissen lassen. »Das Du verdient man sich« heißt es dann. Wir stellen uns nicht die Frage, auf die das Siezen die Antwort wäre. Dann würden wir den Irrtum schnell erkennen, dass gerade Hierarchien viele Entwicklungen beim Umbau gesamtgesellschaftlich relevanter Strukturen im Wege stehen.

Das betrifft auch die überreizte Debatte um den als erzwungen empfundenen Umbau einer Architektur des Gesundheitswesens. Anstatt die Belange einer Finanzierung langfristig auf ein Gelingen von Gesundheit zu richten, erfinden wir ein Modell, das Vorhaltekosten bereitstellt, das für Strukturen gelten soll, die den Beitrags- und Steuerzahler jetzt schon überfordern. Anders ist das Machtgehabe in der Bund-Länder-Gruppe nicht zu interpretieren. Wo ein Krankenhaus steht und wie es die Menschen versorgt, behalten sich 16 Einzelministerien vor, die bereits jahrelang damit auffallen, Ihrer Zuständigkeit für Investitionen in die Zukunft dieser Krankenhäuser nicht nachzukommen. Die Länder beharren auf eine Rolle, der sie zumindest in diesem Punkt nicht gerecht werden. Für diesen Umstand gibt es wahrscheinlich noch keinen Begriff.

Um das Krankheitssystem mit seinen vielen Milliarden nicht infrage zu stellen, wird gar nicht erst in Richtung Prävention gedacht. Die kostspielige Digitalisierung, die einige Chancen zu bieten hätte, wird auf Allgemeinplätze in der Zukunft verschoben. Erst, wenn wir die tradierten Strukturen wieder in Ordnung gebracht haben, kümmern wir uns darum. So kann es vorkommen, dass ein Patient dieser Tage erlebt, dass eine Arztpraxis sich auf den Austausch von DVD als Datenträger bis heute nicht vorbereiten konnte. Als Ausrede wird angeführt, man sei noch nicht so weit.

Überhöhung und Überzeichnung aufgrund verspürter Dringlichkeit sind wichtige Pfeiler des populistischen Spielbuchs: Durch einen Fetisch gegenüber Konflikten macht der Populismus sie effektiv unlösbar. So kann trefflich über alte Zöpfe diskutieren, die man nicht abschneiden möchte.

Das elektrische Licht wurde nicht durch Weiterentwicklung von Kerzen erfunden.

Wie der Populismus seine beängstigenden Erzählungen wirkungsvoll verbreitet

Dies ist die Geschichte hinter der Geschichte, der Mechanismus, der es dem Populismus ermöglicht, seinen alarmierenden Erzählungen Leben einzuhauchen. Mit unlösbaren Problemen in der Hand, kann er behaupten, dass das Gesundheitswesen auf dem Weg in den Untergang ist, dass drastische Maßnahmen notwendig sind und nur er die Antworten hat. Durch das Aufbauschen und Verewigen dieser Konflikte wird der Populismus zu einem selbst ernannten Retter, der das Land vor der drohenden Katastrophe bewahren kann. Diese alarmierende Rhetorik, verbunden mit einer offensichtlichen Unfähigkeit oder mangelndem Willen, den Fortschritt zu wagen, schafft eine zyklische Dynamik, die den Populismus am Leben hält und gleichzeitig die für unseren Fall gemeinte Gesundheitsgesellschaft in einen Zustand chronischer Unruhe versetzt.

Doch um echte und dauerhafte Veränderungen zu bewirken, brauchen wir mehr als nur seriell vorübergehende Aufmerksamkeitsspitzen; mehr als ein politisches Protokoll des ewigen Kreisens um sich selbst.

Wir benötigen Geschichten des Gelingens, die positiv sind und zu denen man sich als gesunder Mensch bekennen kann, um einem kranken System das Überwinden zu lehren. Geschichten, die inspirieren und dazu motivieren, Teil der Lösung zu sein. Eine solche Erzählweise würde uns nicht nur helfen, die Akzeptanz eines Umdenkens in gesundheitskulturellen Weichenstellungen hervorbringen, und so eine populistische Kultur der Sofortigkeit überwinden kann. Denn die schafft oft mehr Probleme, als sie löst.

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