Der Wochenendanzeiger ist eingetroffen und die Supermarktkette Netto ist mit einem Prospekt vertreten. Auffällig sind die neuen Siegel, die bei Fleischprodukten auf mehreren Seiten und mit vier unterschiedlichen Kategorien auf die Haltungsform verweisen. Und hier beginnt das Problem.
Siegel für Produkte gibt es, weil sie sich dazu eignen, die Sicherheit, die Herkunft oder Kriterien, die bei der Herstellung im Vordergrund standen, herauszustellen. Auch verwendete Rohstoffe oder ihr Weglassen kann mit einem Siegel ausgedrückt werden.
Auf der Internetseite haltungsform.de beteuern Aldi Süd und Aldi Nord, Bünting, Edeka, Kaufland, Lidl, Netto, Penny und Rewe, sich dem Tierwohl verpflichtet zu fühlen. Jeder Supermarkt verfolgt dabei verschiedene Fahrpläne, bis wann man zu 100 % auf der besseren Seite stehen will. Unterschieden wird zwischen Stallhaltung, Stallhaltung Plus, Außenklima und Premium. Hinter den vier Kategorien steht primär das Platzangebot, mit dem Tiere bis zu Ihrer Schlachtung auskommen müssen.
Das Problem bei Haltungsform.de im Detail
In diesem Blog kümmern wir uns unter anderem um Kommunikation mit der Öffentlichkeit. Das zuletzt verwandte Thema waren die veganen Weißwürste auf dem gerade noch laufenden Oktoberfest. Heute müssen wir noch einmal über Fleisch reden. Und zwar über das Siegel Haltungsform und das oben angesprochene Netto-Prospekt im Wochenanzeiger. Folgende Aspekte sind mir aufgefallen und die Frage drängt sich auf, ob dahinter Unvermögen in der Kommunikation steckt oder gar Kalkül für eine hingeklügelte Außendarstellung, die bei genauerem Hinsehen Wahrhaftigkeit vermissen lässt.
- Das Siegel baut sich von schlecht nach etwas besser hin auf. Es beginnt mit dem gesetzlichen Mindestmaßstab bei allen Tierarten. Das ist nach Quadratmeter deutlich zu wenig und deshalb bekommt diese Kategorie die Bezeichnung Stallhaltung und die Farbe Rot mit einer Eins (1). Danach kommt die Farbe Blau und eine Zwei (2). Das steht für ein Plus in der Stallhaltung. Warum ausgerechnet die Kategorie (3), die den Tieren ein Außenklima bietet, aber nur wenig mehr Platz, die Farbe Orange erhält, erschließt sich nur mit der Annahme, dass die meisten Produkte bei Netto der Kategorie (2) angehören. Das Blau für die (2) ist allemal freundlicher als ein Terrakotta-artiges Rot für die (3), das ja nach logischem Ermessen auf die Stallhaltung verweist. Das will man nicht. Also nimmt man Blau, weil Blau etwas milder stimmt und die (2) ja nicht so schlimm klingt. Der Kategorie (3) wird also unterstellt, dass aufgeklärte Verbraucher das schon einordnen können und allen anderen das egal ist oder man das Anliegen des Siegels unbewusst ignoriert.
- Warum überhaupt wird in der Eskalation zum Besseren hin von 1 auf 4 verwiesen? Klasse 1 steht in vielen Produktkategorien für das, was man hier mit der Kategorie (4) als Premium gekennzeichnet werden soll. Die Vier (4) besagt nichts, außer noch mehr Platz, was aber nach menschlichem Ermessen zu wenig ist. Dass die (4) bei Haltungsform.de auch nur ausreichend ist, liest man mit den Kriterien, die hier von Tierhaltern verlangt werden, um in dieser Kategorie geführt zu werden. Tatsächlich ist die Kategorie (4) dann auch grün. Nur leider findet sich gar kein grünes Produkt im Prospekt, womit Netto als Supermarkt beim Kauf von Fleisch eigentlich ausscheidet.
- Das neue Siegel wird mit auffällig großen Kacheln bei fast jedem Feld eines Produkts dargestellt. Also Bauchspeck (geräuchert) bekommt auf Seite 8 des Prospekts mit Gültigkeit bis Samstag, 01.10.2022 eine (2). Fast überall ist das neue Siegel erkennbar. Auch auf Seite 14. Fast hat man den Eindruck, das Prospekt besteht nur aus diesem Siegel. Aber nur fast überall. Produkte der Kategorie (1) bekommt kein Siegel extra im Prospekt. Auf den Produktbildern des verpackten Fleischs ist es winzig erkennbar, wird aber nicht ikonisch extra erwähnt, wie bei den anderen Produkten aus (2) und (3). Als Ersatz soll ein anderes, frei erfundenes Siegel mit der Aufschrift »aus Steinfeld in Niedersachsen« von der Tatsache ablenken, dass es sich hier zwar um deutsches Fleisch handelt, die Tiere aber in beengten Verhältnissen groß werden. Auf eine plakative Aussage zur Haltungsform wird womöglich genau deshalb verzichtet. Ein Siegel, das sich in der unteren Kategorie nicht zeigen will, ist kein Siegel.
Warum das ein PR-Stunt ist
Das Prospekt ist nicht wirklich eine anlassbezogene Kommunikation, wie eine Pressemitteilung. Doch mithilfe des Wochenanzeigers entscheiden immer noch viele Menschen, wo sie in der nächsten Woche einkaufen. Sich mit einem im Prospekt omnipräsent und deutlich abgelichteten neuen Siegel in Kooperation mit Wettbewerbern zu feiern, ist auffällig. Die dilettantische Ausarbeitung des Siegels, das nicht nur hinsichtlich der Farbwahl, sondern auch hinsichtlich des gesamten Designs auffällig nichts-sagend bleibt, darf benannt werden. Auch wenn dahinter ein Prozess zum Wandel des Sortiments versprochen wird, schießt das jetzt völlig am Ziel vorbei. Es kann auch keine Entschuldigung gefunden werden, dass alles mal beginnt und man sich da noch entwickelt.
Ein Siegel, das einen Fahrplan von 8+ Jahren verfolgt, benötigt einen Wiedererkennungswert, damit es sich etabliert, also sich in die Köpfe der Verbraucher schreibt und so Vertrauen aufbaut. Darauf wird offensichtlich verzichtet, was den Verdacht erhärtet, dass es sich hier nur um ein zeitlich befristetes Projekt handeln könnte, den eigenen Umsatz zu stützen. Denn seit rund vier Jahren geht der Fleischkonsum in Deutschland deutlich zurück.
Anstatt echte Aufklärung und zielführende Befähigung (Literacy) beim Fleischkauf zu arrangieren, wird der Kunde an der Nase herumgeführt. Es wird mit Farben hantiert, die ganz offensichtlich psychologisieren sollen. Wenn die meisten Produkte eine (2) tragen, vergibt man eben eine freundlichere Farbe. Damit schließt sich eine spätere Anpassung des Siegels dann leider aus, weil der Verbraucher keine verlässliche Kommunikation über das Siegel erfahren würde.
Fazit zum Siegel Haltungsform.de
Kurzum. Das Projekt riecht nach Gammelfleisch und ist wenig zielführend, den Verbraucher korrekt aufzuklären und ihn zu leiten, das Richtige zu tun. Es täuscht und setzt dabei auf Missverständnisse, die auf den Irrtum einzahlen, Fleisch beim Discounter sei kein Problem.
Die Zeilen zuvor verweisen auf den Grund, warum ich hier über Fleisch im Supermarkt schreibe. Geht es hier nicht um Gesundheitskultur und Interventionen zu den Irrtümern im Gesundheitswesen? Ja, richtig! Allerdings gehört Ernährung zum allgemeinen Gesundheitsgeschehen und darüber hinaus zeigt dieses Beispiel, wie schnell ein Projekt scheitern kann, wenn man in der Marketingkommunikation zu stark das eigene Bedürfnis und nicht das Wohl der anderen (hier: Das Tier) in den Vordergrund stellt.
So etwas passiert Land auf und Land ab auch in der Kommunikation von Gesundheitseinrichtungen. Und dem widmen wir uns dann wieder das nächste Mal. Übrigens: Der Mensch ist das vernunftbegabte Tier, das keines sein will und gerade deshalb Tieren gegenüber ethisch verpflichtet.