Am Tag der Deutschen Einheit 2023 wollen wir nicht nur die Wiedervereinigung Deutschlands feiern, sondern auch an die Bedeutung eines funktionierenden Diskurses erinnern. In diesem Zusammenhang kommt mir der berühmte Satz von Jürgen Habermas in den Sinn: »Der zwanglose Zwang des besseren Arguments«.
Habermas betont, dass die Qualität eines Arguments und nicht Macht oder Eitelkeiten den Ausgang einer Diskussion bestimmen sollten. In einer idealen Welt würden sich alle Teilnehmer:innen einer sachorientierten Diskussion an diese Devise halten. Doch leider ist dies oft nicht der Fall und sehr wahrscheinlich ist ein vollständig inklusiver Dialog aller Beteiligten nicht denkbar. Nicht einmal unter Gesundheitsakteuren, die aktuell um eine Beschleunigung der Digitalisierung und einer Krankenhausreform fechten.
In seinem Jahrhundertsatz beschreibt Habermas den »zwanglosen Zwang des besseren Arguments« als eine Situation, in der ein Argument so überzeugend ist, dass man ihm nicht widerstehen kann. Es ist der Moment, in dem man einlenkt und feststellt, dass man einen Gedanken übersehen hat. Es ist der Zwang, dem man nicht widerstehen kann, gepaart mit der Freiheit, selbst zuzustimmen.
Warum passiert das jedoch so selten? Warum neigen Menschen eher zum Widerspruch als zur Zustimmung? Habermas argumentiert, dass häufig eine emotionale Barriere – die Angst – den Zugang zum besseren Argument blockiert. Die Furcht vor Blamage, der Verlust von Privilegien oder die Bedrohung der eigenen Weltanschauung lassen viele Menschen reflexartig ablehnend reagieren. Solange Ängste das Denken beherrschen, bleibt der Raum für das bessere Argument verschlossen.
Beim Festakt zum Tag der Deutschen Einheit in der Elbphilharmonie in Hamburg sprach Stephan Harbarth, Präsident der Bundesverfassungsgericht unter anderem folgende Mahnung:
Bleiben wir diskursfähig und diskursbereit. Wir sind eine vielfältige Gesellschaft, vielleicht vielfältiger, vielleicht individualistischer als jemals zuvor. Unterschiedliche Anschauungen und Lebenswelten prallen scheinbar unversöhnlich aufeinander. Zwischen politischen Lagern. Zwischen Land und Stadt. Zwischen Jung und Alt. Zwischen Boomern und Generation Z. Wir spüren einen Klimawandel auch im Inneren unserer Gesellschaft, gefördert durch Kommunikationsblasen und Echokammern. Gewiss. Wir sind auch heute kein gespaltenes Land, aber wir sind auseinander gerückt. Einheit bedeutet nicht Einförmigkeit. Das wussten schon die Abgeordneten der Paulskirche. Wir sind unterschiedlicher Herkunft, haben unterschiedliche Überzeugungen und unterschiedliche Lebensentwürfe. Und ja, wir alle kennen Momente eigener Unsicherheit Überforderung oder gar Erschöpfung, in denen wir uns nach Ruhe sehnen statt nach mühsamer Auseinandersetzung um das bessere Argument. Es ist so viel einfacher und bequemer, stets nur den Dialog mit nur mit Gleichgesinnten zu führen. Der Rückzug in den Raum vermeintlicher Sicherheiten maximiert den Zuspruch und minimiert den Zweifel. Allein die Demokratie lebt auf Dauer nur, wenn wir alle miteinander im Gespräch bleiben.
Es ist also wichtig zu erkennen, dass der zwanglose Zwang des besseren Arguments selbst ein Argument ist, von dem wir uns aus Gründen affizieren lassen sollten.
Es liefert uns ein Kriterium, an dem wir unsere Diskussionen ausrichten sollten. Wir sollten uns fragen, welche Ängste, Interessen oder Eitelkeiten unseren Blick trüben und den Weg zu einem Konsens versperren.
An diesem Tag der Deutschen Einheit 2023 sollten wir uns bewusst machen, wie wichtig ein gelingender Diskurs für unsere Gesellschaft ist. Lasst uns die Macht des besseren Arguments anerkennen und uns bemühen, Ängste abzubauen, um einen offenen und konstruktiven Dialog zu führen. Nur so können wir gemeinsam eine Einheit erreichen, die über politische und gesellschaftliche Grenzen hinweg Bestand hat.
In diesem Sinne wünsche ich allen einen inspirierenden Tag der Deutschen Einheit 2023, an dem wir das Potenzial eines gelingenden Diskurses feiern und anstreben. Im Gesundheitsgeschehen und darüber hinaus.