Die seit 2021 verfügbare Elektronische Patientenakte wird von den Bundesbürgern kaum genutzt. Kaum jemand nimmt das Recht in Anspruch, sich bei seiner Krankenkasse freiwillig eine Patientenakte zu besorgen. Die ePA in ihrer jetzigen Form droht zu scheitern.
Das liegt primär an der Art und Weise, wie die Akteure im Gesundheitssystem sich zur Patientenakte verhalten. Auch die Gesundheitspolitik hat mit ein paar Haken auf der Flucht nicht immer einen glücklichen Weg eingeschlagen, wie das wichtigste Infrastrukturprojekt für ein zukunftsfähiges Gesundheitsgeschehen noch gelingen kann. Internationale Vergleiche sind müßig, müssen hier jedoch angeführt werden. Denn Deutschland leistet sich einen Sonderweg, der nicht mit guten Visionen begründet werden kann.
Größter Angstgegner scheint die Transparenz zu sein. Dokumentationen im Rahmen der Leistungserbringung könnten zunächst in falsche Hände geraten und durch Patient:innen missinterpretiert werden. Das stimmt einerseits, zeugt jedoch auch von der Tatsache, dass im Rahmen der medizinischen Dokumentation noch viel Luft nach oben ist.
Und so kommt es, dass Gesundheitsdaten, die im Rahmen eine Behandlung beim Arzt oder im Krankenhaus anfallen, zunächst als einrichtungsinterne Dokumentationen in den Gesundheitseinrichtungen verbleiben. Das leistet keinen Beitrag über die bisherigen Vorteile dieser Dokumentationen hinaus. Wenn die Pläne des Bundesgesundheitsministeriums umgesetzt werden, dass jeder Versicherte automatisch eine Elektronische Patientenakte erhält, wird sich das ändern.
Das Verfahren, das unter dem Etikett Opt-out meist zwischen Fachleuten diskutiert wird, hat bislang nur wenige gut informierte Bürgerinnen und Bürger erreicht. Ein breiter gesellschaftliche Deliberation scheitert wieder einmal. Krankenkassen berichten, dass vorausschauende Schreiben mit Widersprüchen gegen die ePA jetzt schon in den Geschäftsstellen eingehen; obwohl das Widerspruchsverfahren noch nicht festgelegt wurde. Tatsächlich sind diese Schreiben derzeit eher ein Indiz, dass Teile der Bevölkerung dem politischen Willen nicht folgen möchten, die ePA als zentrale Anwendung der Telematikinfrastruktur zu installieren.
Eine Einschätzung der Bertelsmann Stiftung kommt zu dem Schluss, dass zwei tragende Abwägungsgründe für oder gegen das Verfahren ausgeglichen zueinander stehen. Einerseits gilt in Deutschland das Recht des Einzelnen auf informationelle Selbstbestimmung. Andererseits ist die ePA das wichtigste Projekt, einen individuellen und zugleich kollektiven Gesundheitsnutzen herzustellen. Dann nämlich, wenn Gesundheitsdaten im individuellen Fall zuverlässig dort ankommen, an dem sie gebraucht werden und der Zugriff durch die Menschen selbst gewährleistet wird.
Kollektiv können Daten künftig von Versicherten selbst freigegeben werden, um sie der Forschung zuzuführen. So könnten die Gesundheitsdaten dem Gemeinwohl dienen. Doch hier beginnt schon der Streit. Denn wie weit Forschung heute dem Gemeinwohl folgt oder dem Erfolg von Geschäftsmodellen nützlich ist, wird munter diskutiert. Zumal durch die Erhebung und Nutzung von Gesundheitsdaten neue Geschäftsmodelle entstehen lässt, die wir heute in der Form bisher nicht kennen. In diesem Zusammenhang entsteht gerade erst eine neue Diskussion um die Digitale Dividende und das führt uns zurück zum Aspekt einer Transparenz, die den Einzelnen genauso wie die sich gerade konstituierende Gesundheitsgesellschaft angeht.
Transparenz als Wert
Als vor rund elf Jahren der Werte-Index 2012 veröffentlicht wurde, galt Transparenz als der Senkrechtstarter. Damals im Windschatten der Bankenkrise von 2008 und den impliziten Turbulenzen für die Wirtschaft verspielten neben den Geldinstituten, viele Unternehmen, Medien und einmal mehr die Politik viel Vertrauen. Das Internet verändert den Umgang mit Informationen seit bereits drei Dekaden. Die Organisation von Transparenz – so der Werte-Index 2012 – werde zur Machtfrage. Die Nutzer des Internets würden in vielen Bereichen der Wirtschaft und der Politik Transparenz erzwingen. So die Annahmen vor mehr als zehn Jahren. Forderungen nach mehr Transparenz erscheinen deshalb redlich. Heute wissen wird, maximale Transparenz kann überfordern. Ohne geeignete Bewertung von Zusammenhängen, entsteht kein Vertrauen. Deshalb galten verschiedene Empfehlungen, mit denen Unternehmen und Politik bis heute fremdeln.
Diskutieren wir die Empfehlungen von damals mal entlang der professionell am Gesundheitsgeschehen beteiligten Akteure
Transparenz als Identitätsmerkmal setzt ein tätiges Zusammenhandeln voraus. Dort, wo Transparenz als Verteidigungsstrategie eingebracht wird, weil Kunde, Nutzer und Wähler bereits das Vertrauen entzogen haben, verstärkt die Effekte einer Krise mittlerweile. Das ist bis heute ein weitestgehend ungenutztes Potenzial in der Krisenkommunikation von Gesundheitseinrichtungen. Die ständige Reflexion von Unternehmenswerten in Theorie und Praxis ist eine bis heute vernachlässigte Fähigkeit vorrangig bei Krankenhäusern. Gerade dort, wo die Menschen ein hohes Gespür für Werte vermuten, gelingt es immer weniger, sich strategisch um die Unternehmenswerte selbst zu bemühen. Mag der einzelne Mitarbeitende in einem Krankenhaus mit sich auch im Reinen sein; Ein einheitliches Gesamtkonzept, das sich intern gut vermittelt und Identität stiftet, gibt es selten.
Mitbestimmung und Zugänglichkeit versprechen ein Verhältnis auf Augenhöhe
Auch zwischen Patient:innen und ihren Ärztinnen und Ärzten. Im Falle der elektronischen Patientenakte wurden viele Fehler gemacht. Ängste um Macht- und Kontrollverlust bestimmen seit jeher den Diskurs zum Umgang mit Gesundheitsdaten. Transparenz ist in einer gelingenden Gesundheitsbeziehung nicht mehr ohne mediengestützte Formate möglich, auch wenn das persönliche Gespräch zuletzt wieder an Bedeutung gewann und sicher eine Renaissance verdient hätte. Spätestens bei fehlendem Zugriff auf direkte Antworten, müssen Gesundheitseinrichtungen asynchrone Angebote formulieren, wie Mitbestimmung durch eine neue Zugänglichkeit gewährleistet werden kann.
Transparenz ist kein Werkzeug für Public Relations oder Marketing
In der Realwirtschaft erkennen wir den Irrtum im Zuge des Versuchs, sich als Unternehmen grün zu waschen. Greenwashing ist der jämmerliche Versuch, Kapital zu schlagen aus einem als Trend falsch gedeuteten Anspruch. Als Botschaft eignet sich Transparenz eben nicht. Wer transparent ist, lädt zum Dialog ein, was den vorherigen Punkt noch einmal verstärkt. Transparenz ist immer eine Interaktion mit den Anspruchsgruppen und benötigt Mut für Veränderung im Kommunikationsverhalten und noch weit darüber hinaus.
Die Publikation von Daten stellt noch keine Transparenz her
Wenn die Verständlichkeit und, wie oben bereits erwähnt, der Kontext fehlt, hat es Transparenz schwer. Gesundheitseinrichtungen kennen viele Anspruchsgruppen. Die größte – die Patient:innen – wird hinsichtlich ihrer umfangreichen Anforderungen immer noch ignoriert und paternalistisch versorgt. Schon die verpflichtende Veröffentlichung von Qualitätsberichten erfolgt gemäß den Mindestanforderungen, was übrigens nicht bedeutet, dass diese Berichte leicht zu erstellen wären. Sie erreichen die eigentliche Zielgruppe jedoch nie in einfacher Sprache, als schrittweise Kampagne und sie sind auch nicht von Visualisierungen umrahmt. Transparenz ist also keine Materialschlacht, die letztlich wieder ein Ziel verfolgt, nämlich das Verschleiern durch Unübersichtlichkeit.
Wenn bestimmte Dinge nicht öffentlich zugänglich gemacht werden
Eine Gesundheitseinrichtung muss sich erklären und begründen, warum eine Transparenz nicht in jedem Fall sinnvoll erscheint. Es sollte überzeugend dargelegt werden, warum man von Fall zu Fall intransparent bleibt.
Transparenz als Unternehmenswert hat sich bereits stark verändert. Diese Ansprüche übertragen sich auf alle Unternehmensformen des Gesundheitswesens. Noch 2014 kam der Werte-Index in seinen Analysen zu dem Schluss, dass wir als Bürgerin:innen nicht wünschen, gläsern zu werden, von Institutionen jedoch mehr Transparenz einfordern. In einer zunehmend komplexeren Welt, die in immer mehr Daten überführt wird, um sich selbst zu verstehen, entsteht eine Sehnsucht nach Übersichtlichkeit. Wir leben in partizipativen Zeiten und daran wird sich so schnell nichts ändern. Interaktion heißt der neue Standard und auch Gesundheitsunternehmen steht es gut, wenn Mitgestaltung und Teilhabe, vielleicht sogar die aktive Aufforderung für ein tätiges Zusammenhandeln erkennbar werden.
Die Veröffentlichungen des Werte-Index der nachfolgenden Jahre berührten den Wert Transparenz nicht mehr. Das bedeutet nicht, dass der Wert verschwunden wäre. Tatsächlich zeigt sich Transparenz als Querschnitt. Das betrifft auch den Wert Gesundheit, der seit jeher unter den Top-Werten geführt wird. Und wenn nicht die Diskussionen um die Patientenakte, dann hat uns doch die Pandemie gelehrt, dass Transparenz geboten ist und sie uns gleichzeitig überfordern kann.
Folgen von Transparenz bei Patientenakten
Die eingangs diskutierte Situation bei der Elektronischen Patientenakte führt ganz sicher zu weiteren Implikationen als nur eine Angst um Macht- und Kontrollverlust. Seit Jahren werden die kulturellen Herausforderungen, die dem der Arztberuf bevorstehen, durch politische Grabenkämpfe verschleiert. Der Umgang mit selbst erfassten Informationen im klinischen Alltag verändert sich bereits, wenn man sich international umschaut.
So berichtete die Ärztin Danielle Ofri vor ein paar Tagen im New Yorker über ihre Erfahrungen rund um die subjektiven Empfindungen in der routinierten Dokumentation eines ärztlichen Befundes, wenn man als Arzt weiß, dass der Patient jederzeit ein Recht hat, die Aufzeichnungen einzusehen. In den USA wird die Situation strenger gehandhabt, als es hierzulande vorgesehen ist. Der 21st Century Cures Act in den USA wurde in jüngster Vergangenheit vollständig umgesetzt und stellt Patienten standardmäßig in Echtzeit medizinische Aufzeichnungen zur Verfügung, einschließlich Notizen von Ärzten. Möglich wird das durch standardisierte APIs, über die andere Anwendungen (Apps), die diese Daten dann auslesen können. Danielle Ofri berichtet von Ängsten, die entstehen, wenn sie eine ausführliche Differenzialdiagnose dokumentiert und ein wenig gesundheitskompetenter Patient sich mit zahlreichen Mutmaßungen konfrontiert sieht, die im ärztlichen Miteinander wichtig sind, Außenstehende jedoch maßlos überfordern könnten. Zudem spricht sich eine Mehrzahl von Befragten in den USA dafür aus, Zugang zu Laborwerten zu erhalten, bevor ein Arzt seine Interpretation vorgenommen hat.
Transparenz ist als nicht in jeder Hinsicht ein anzustrebender Wert und die Situation in den USA erscheint uns interessant genug, die Entwicklungen zum Cures Act gelegentlich noch etwas näher zu beleuchten.