Von Superlativen und dem Gesundheitssystem

Schon beim Verbunden sein durch ein einziges Prinzip scheitern wir, was jedes sich wechselseitige Tragen und Unterstützen ipso facto ausschließt.

In den vergangenen Wochen noch dachte ich, wir hätten diese paraphrasierte Selbstversicherung nicht mehr nötig. Dergleichen zu behaupten, wirkt fast schon lächerlich. Gemeint ist das letzte Argument vor jeder Desillusion. Es kam mir stets vor, wie ein Treppenwitz mit Herzinsuffizienz, der es kaum mehr ohne Keuchen in den ersten Stock schafft.

Dann kofferte Markus Horneber vor ein paar Tagen auf Linkedin über Bande mit genau diesen Worten gegen Karl Lauterbach. Wieder einmal wurde »Das beste Gesundheitssystem der Welt« bemüht, um aus möglichst großer Höhe vor den Untiefen einer Reform zu warnen.

Der Bundesgesundheitsminister will das Gesundheitssystem dem Wesen nach von einem Teil seiner ökonomischen Sensorik befreien. Entlang falscher Anreizsysteme stellt sich das System selbst infrage. So hatte ich das zumindest verstanden und zaghaft begrüßt. Wir müssen noch abwarten, wie sich erste Deliberationen im Gesetzestext niederschlagen.

Der Chef des Gesundheitskonzerns Agaplesion erkennt in dem Ansatz, mehr Qualität zu fordern, politisch und ideologisch motivierte Narrative. Unseren Krankenhäusern schlechte Qualität unterzuschieben, werde schnell zum Problem. Er vermutet, das Vertrauen der Fachkräfte sinke gegen null, wenn diese in schlechten Krankenhäusern arbeiten müssten. Das beste Gesundheitssystem auf der Welt verliere so bald seinen Status. Zur Erinnerung. Es geht um Krankenhäuser.

Ja, Deutschland ist Teil der weltweiten Forschungsgemeinschaft in der Medizin, profitiert davon und steuert mit eigenen wissenschaftlichen Zentren immer noch dazu bei. Hinsichtlich der Nutzung von Gesundheitsdaten jedoch stehen wir alles andere als weltmeisterlich da. Und das beginnt im Krankenhaus und zieht sich als Querschnitt durch das gesamte Gesundheitssystem.

Ich gestehe, ich kann mit dem historisch begründeten Begriff Gesundheitssystem nicht mehr viel anfangen. Immerhin der Beginn von Gesundheitssystemen kann zurückdatiert werden auf die Zeit des aufgeklärten Absolutismus, als der Staat aufgrund sich verändernder Lebensbedingungen durch die Industrialisierung ein Interesse an der Gesundheit seiner Bürger entwickelte. Schließlich wollte man weiter Soldaten rekrutieren und dass die Wettbewerbsfähigkeit künftig von gesunden Bürgern abhängen könnte, kapierte man schon damals.

Was verstehen wir dann heute unter einem Gesundheitssystem?

Ich weiß es nicht. Auf mich wirkt das in etwa so abstrakt, wie wenn Kommentare zur Geopolitik von »dem Westen« sprechen.

Ich neige deshalb zum Begriff Gesundheitsgeschehen. Das bleibt genau so wage, aber unverdächtig. Superlative werden nicht gebraucht. Im Begriff Gesundheitsgeschehen steckt die Tatsache, dass Gesundheit passiert. Zunächst einfach so. Weil der Mensch ist. Das ist die eigentliche Singularität, die wir wieder in den Blick nehmen sollten. Gesundheit bleibt auf absehbare Zeit ein eher evolutionäres Konzept.

Interessant wird es, wenn man in Krankheit geworfen wird. Eine Krankheit hat man. Gesund ist man. Eine Krankheit gibt man ab. Gesund bleiben ist ein lebenslanges Projekt. Gesund sterben, wäre ideal.

Das Gesundheitsgeschehen ist größtenteils nicht umrahmt von einem Gesundheitssystem, das wir eher unscharf mithilfe des SGB V abgrenzen können. Gesundheit passiert im Alltag der Menschen. Eine ausführliche Wortklauberei, dass wir – wenn überhaupt – ein weltbestes Krankheitskompensationssystem haben, erspare ich uns an dieser Stelle.

Das Krankheitskompensationssystem will reparieren

Prävention und Gesundheitskompetenz stehen nicht gerade im Verdacht, lukrativ zu sein. Gesundheit ist kein Geschäft, weiß der Volksmund, aber es lässt sich eben gutes Geld damit verdienen.

Und weil derzeit die Angst regiert, die letzten Tropfen beim Auspressen der Zitrone der Sorte Solidargemeinschaft durch Bemühungen für Veränderung durch mehr Digitalisierung könnten in den falschen Töpfen landen, ergreifen manche die postmoderne Flucht in Strukturdebatten. Postmodern sei hier verstanden als der Irrtum, um die Geltung von Wahrheitsansprüchen müsse nicht mehr öffentlich gestritten, sondern lediglich untereinander gut verhandelt werden.

Ein weltbestes Gesundheitssystem wäre ein System, das eine vollständige Menge an Ereignissen oder Tatsachen darstellte, sodass alle notwendig durch ein Prinzip verbunden sind. Wenn man so will, ein organisches Ganzes, in dem sich alles wechselseitig trägt und unterstützt und das dann noch in sich zusammen stimmt. So beantwortet Friedrich Wilhelm Joseph Schelling die Frage: Was ist ein System? Ein damals zur Zeit des deutschen Idealismus noch ungewohnter Begriff. Wer mich besser kennt, weiß, dass ich auf eine gute Begriffsbestimmung wert lege.

Wer ein weltbestes Gesundheitssystem erhalten will, müsste demnach anerkennen, dass Systeme nur dann erfolgreich bleiben, wenn sie schaffen, sich anzupassen. Systeme stehen in Resonanz mit ihrem Nutzer und wer System zunächst versteht wie Schelling, der liest aus dessen Begriffsbestimmung zunächst die genannten Maßstäbe heraus und prüft, ob noch etwas zu retten ist.

Mich jedenfalls beschleicht das Gefühl, dass wir schon beim Verbunden sein durch ein einziges Prinzip scheitern, was jedes sich wechselseitige Tragen und Unterstützen ipso facto ausschließt.

Was es braucht, ist ein neuer Realismus. Das Gesundheitssystem als großes Ganzes, scheint es nicht zu geben. Die stark voneinander abweichenden Wirklichkeiten der Gesundheitsakteure müssen sich den Tatsachen stellen. Wenn etwas von etwas wahr ist, kann das nicht durch das Argument, das weltbeste Gesundheitssystem werde zerstört, weg verhandelt werden.

Wir müssen den öffentlichen gesamtgesellschaftlichen Streit wagen und endlich damit beginnen, das Gesundheitsgeschehen als Ganzes in den Blick zu nehmen. Das schließt dann auch neue Spielveränderer mit ein, aber darüber sprechen wir lieber bei einem der nächsten Male.

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